top of page

Forschungsvorhaben

 

Deutschsprachige Ausgabe der Werke von Semen L. Frank

Der letzte Band der deutschsprachigen Werkausgabe des russischen Philosophen Simon L. Frank (1877 - 1950) ist im Frühjahr 2013 erschienen. Damit ist das Gesamtwerk von Frank vollständig in deutscher Sprache zugänglich. Das Herausgeber-Team besteht aus Prof. Dr. Peter Ehlen, Hochschule für Philosophie, München, Prof. Dr. Nikolaus Lobkowicz, Ehrenvorsitzender und Gründer des ZIMOS, Professor Dr. Leonid Luks, Direktor des ZIMOS und Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Universität Eichstätt, und Prof. Dr. Peter Schulz, Lehrstuhl für Semiotik, Universität Lugano (Schweiz).

Nachdem die Fritz Thyssen-Stiftung, Köln, im Sommer 1996 die finanzielle Absicherung des Projekts übernommen hat, haben umgehend die Arbeiten an der Edition begonnen. Der erste Band, "Der Gegenstand des Wissens. Grundlagen und Grenzen der begrifflichen Erkenntnis" ist zum 50. Todestag des Philosophen im Jahre 2000 im Karl Alber-Verlag erschienen.

Semën L. Frank gehört zu den bedeutendsten systematischen Philosophen

der russischen Geistesgeschichte. Als geborener Jude, der 1912 der Russisch-

Orthodoxen Kirche beitrat, und als Emigrant, der mehrere Jahre lang in

Deutschland studierte und lehrte, ist Frank eine zentrale Vermittlergestalt

zwischen der deutschen und der russischen Kultur einerseits und zwischen

der jüdischen und der christlichen Religion andererseits.

Im Jahr 1922 mußte Frank mit anderen nicht-marxistischen Wissenschaftlern

und Intellektuellen Rußland verlassen. Einige Jahre lehrte er an der Berliner

Universität, bevor ihn das Nazi-Regime zunächst nach Frankreich und später

nach England trieb.

Frank ist tief in der westeuropäischen, insbesondere der deutschen Philosophie

verwurzelt. Einige seiner Artikel wurden in deutschen Fachzeitschriften für

Philosophie, etwa in den "Kant-Studien" veröffentlicht. Seine Kenntnis des

westeuropäischen Denkens verband er dabei mit genuinen Einsichten aus der

russischen Kultur. Neben systematischen Arbeiten im Bereich der

Philosophischen Anthropologie, der Sozial- und Religionsphilosophie betätigte

er sich auch als Übersetzer namhafter deutscher Philosophen (Husserl, Windelband, Fischer, Zeller u.a.) und sorgte mit seiner Edition des ersten Bandes der "Logischen Untersuchungen" Edmund Husserls im Jahre 1909 für die Rezeption der Phänomenologie in Rußland.

Aufschlußreich sind auch seine Essays zur Zeitgeschichte, die wichtige Dokumente der Auseinandersetzung mit den totalitären Regimen des Kommunismus und Nationalsozialismus sind. Die Bedeutung seines Werks, dessen Übersetzung in die deutsche Sprache ein langjähriges Desiderat der philosophischen Literatur in Deutschland war, ist für die jüngere Geschichte des deutschen und russischen Denkens kaum zu überschätzen. Für die Edition der Werke von Semí«n L. Frank hatte das ZIMOS das Einverständnis des Sohnes, Vassilij Frank, erhalten, der für die Verbreitung der Werke seines Vaters wesentliche Arbeiten geleistet hat. Leider ist Vassilij Frank im Juli 1996 unerwartet verstorben. Das ZIMOS betrachtet es als Ehre, sein Werk fortsetzen zu können.

Russische Ausgabe der Summa Theologiae des Thomas von Aquin

Die Theologische Summe des Thomas von Aquin (+ 1274) ist eine der einflußreichsten

Schriften des Abendlandes; sie ist im 20. Jahrhundert in nahezu alle westeuropäischen

Sprachen übersetzt worden. Bis tief ins 18. Jahrhundert war sie selbst an evangelischen

Fakultäten einer der Grundtexte des Theologiestudiums; noch heute soll laut den

Vorschriften des katholischen Kirchenrechts (1983) bei der Ausbildung von Theologen

das Fach Dogmatik "unter Anleitung des hl. Thomas als Lehrer" vermittelt werden. Auch

viele Problemstellungen der neuzeitlichen westlichen Philosophie bleiben letztlich

unverständlich, wenn man dieses Werk nicht kennt.

Da Rußland mit der westeuropäischen Philosophie erst spät im 18. Jahrhundert in Berührung kam, blieb dort dieses Werk auch unter Philosophen nahezu völlig unbekannt; unter dem Kommunismus war es verpönt, sich mit ihm zu befassen. Zwar erschienen in den letzten anderthalb Jahrzehnten Übersetzungen kleinerer Abschnitte, doch bis heute können russische Philosophen dieses Grundwerk abendländischen Denkens nur dann berücksichtigen, wenn sie Latein beherrschen, eine Sprache, die an russischen Gymnasien nicht gelehrt wird. Die Schwierigkeit des ZIMOS-Projektes besteht u.a. darin, daß das Russische im Gegensatz zu westeuropäischen philosophischen Fachsprachen nur in sehr geringem Umfang von der Terminologie der mittelalterlichen Scholastik beeinflußt worden ist und eine Übersetzung der Summa deshalb oft neue bisher unübliche Ausdrücke erfinden muß.

Am 14. Juni 2006 fand die Buchvorstellung an der Philosophischen Fakultät der Moskauer Staatlichen Universität (MGU) statt.

Der Spätstalinismus und die jüdische Frage (1945-1953)  (Autor: Leonid Luks)

Inhalt: In den letzten Regierungsjahren Stalins, das heißt von 1948 bis 1953, vollzog sich eine der seltsamsten Metamorphosen dieses Jahrhunderts: der Kommunismus, der bis dahin den Antisemitismus angeprangert und unter Strafe gestellt hatte, wurde zu einem der wichtigsten Wortführer im Kampf gegen den so genannten Kosmopolitismus und Zionismus, das heißt gegen die Juden. Diese Wendung gibt der Forschung viele Rätsel auf. So wurde die Antisemitismus-Kampagne trotz der weitgehenden Stalinisierung des Ostblocks in einzelnen kommunistischen Ländern mit unterschiedlicher Intensität geführt. Deshalb ist eine vergleichende Analyse der jeweiligen Rahmenbedingungen erforderlich, um die Frage nach den Ursachen für die antijüdische Wendung des Stalinismus zu beantworten. Auch ein anderes Problem bedarf einer Klärung: Warum wurde die so genannte antikosmopolitische Kampagne von 1948/49 vorübergehend eingestellt, um dann, nach zwei Jahren, in noch schärferer Form wiederaufzuleben? Abgesehen davon wird das Projekt auf das Spannungsverhältnis zwischen dem internationalistischen Erbe der bolschewistischen Ideologie und der antijüdischen Ausrichtung des Spätstalinismus eingehen. Trotz der physischen Vernichtung eines großen Teils der "alten bolschewistischen Garde" konnte sich Stalin von der bolschewistischen Tradition, die auch kosmopolitische Komponenten enthielt, nicht gänzlich lossagen. Dies hätte die Legitimität seines Regimes in Frage gestellt. Deshalb war der offene und hemmungslose Antisemitismus, wie ihn rechte Gruppierungen praktizieren, für die Stalinisten nicht möglich. Ihre antijüdische Politik musste zwangsläufig viele Brüche und Widersprüche enthalten, womit sich das Projekt genauso befassen wird wie mit den Parallelen, die zwischen der Antisemitismus-Kampagne der Jahre 1948 bis 1953 und den Kampagnen gegen andere "Volksfeinde" bestehen, so gegen den "Trotzkismus" oder den "Titoismus". Die Untersuchung dieser Ähnlichkeiten wird zum Verständnis eines der zentralen Mechanismen der Stalinschen Herrschaftstechnik beitragen. Die Koordination des Projekts liegt beim Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte, Prof. Dr. Leonid Luks. Eine erste Fachtagung zum Thema fand im Mai 1997 statt.

Veröffentlichungen: Luks, Leonid (Hrsg.): Der Spätstalinismus und die 'jüdische Frage' : zur antisemitischen Wendung des Kommunismus. Köln: Böhlau 1998, 293 S. ISBN: 3-412-01998-4.+++Luks, L.: Zum Stalinschen Antisemitismus. Brüche und Widersprüche. in: Weber, H.; Jahn, E.; Braun, G. u.a. (Hrsg.): Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung 1997. Akademie-Verl., S. 9-50.+++Luks, L. (Hrsg.): Die "antikosmopolitische Kampagne" in der spätstalinistischen Sowjetunion und die Polnischen "Märzereignisse" - ein Vergleich. in: Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte, Bd. 2. Köln: Böhlau 1999, S. 215-237.+++Luks, L.: Evrejskij vopros v politike Stalina (Die jüdische Frage in der Politik Stalins). in: Voprosy istorii, 1999, 7, S. 41-59.+++Luks, L.: Antisemitizm v politike Stalina. in: Tretij Rim? Tretij Reich? Tretij Put? Istorieskie ocerki o Rossii, Germanii i Zapade (Das Dritte Rom? Das Dritte Reich? Der dritte Weg? Historische Skizzen über Russland, Deutschland und den Westen). Moskau: Moskovskij filosofskij fond 2002, S. 195-225.@

Arbeitspapiere: Der Spätstalinismus und die jüdische Frage. Symposium an der Katholischen Universität Eichstätt 7.5.-10.5.1997. Tagungsbericht.+++Cosmopolitanism as an anti-jewish stereotyp under Stalin. Vortrag auf der Tagung 'Jews as cosmopolitans: stereotyps, denunciation, ideal'. Elmau, 14.-17.7.2001.

​Kulturverständnis im postsozialistischen Russland: Modelle und Traditionen (Teilprojekt im Rahmen des Bayerischen Forschungsverbunds Ost- und Südosteuropa (Forost) (Bearbeiter: Alexei Rybakov und Leonid Luks)

 

Die Integration Russlands in europäische Strukturen, seine Anpassung an allgemeine zivilisatorische Rechtsnormen und Wertvorstellungen ist nicht nur ein wirtschaftlicher, politischer und sozialer Vorgang, sondern auch ein Prozess der Veränderung der Mentalität.

Mit einer besonderen Sensibilität reagieren auf diesen Mentalitätswandel Kulturschaffende, die die Rolle eines „Seismographen“ in der jeweiligen Gesellschaft spielen. Andererseits ist die Kultur Ursache für Mentalitätsveränderungen. Kulturelle Stereotypen prägen weitgehend das soziale, politische und wirtschaftliche Verhalten entsprechender Bevölkerungsgruppen.

Eine autonome, von den Zielsetzungen des Staates oder der in der Gesellschaft vorherrschenden Ideologien unabhängige Kultur kann als Zeichen und als Voraussetzung gesellschaftlicher Autonomie betrachtet werden.

In der Sowjetzeit wurde in Russland eine utilitaristische Kulturauffassung propagiert, welche die Kulturerzeugnisse entschieden in den Dienst des Staates stellte. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ergibt sich hier ein eher verworrenes Bild. Verschiedene Kulturauffassungen behaupten sich nebeneinander.

Einerseits ist die Entfaltung einer weitgehend autonomen Kultur unverkennbar. Andererseits wirken ältere Denktraditionen nachhaltig nach, um so mehr, da das sowjetische Kulturmodell zum großen Teil auf dem traditionellen Kulturmodell der „Intelligencija“ aufbaute.

Das Projekt strebt eine Analyse des Spannungsverhältnisses zwischen der autonomen und der utilitaristischen Kulturauffassung in der russischen Geistesgeschichte und in der Gegenwart an. Historische Wurzeln heutiger Auseinandersetzungen sollen aufgedeckt, die Implikationen kultureller Differenzen für das gesellschaftliche Leben des Landes gezeigt werden.

In der Tat lassen sich diese zwei Kulturparadigmen in der russischen geistigen Tradition mit größerer Deutlichkeit unterscheiden, als in Westeuropa. Die Frage, ob die Kultur für fremde Zwecke instrumentalisiert werden darf bzw. muss oder ob sie als ein Wert an und für sich zu betrachten ist, hatte in der russischen Geschichte immer eine Brisanz, die offensichtlich damit zusammenhängt, dass die Kultur im „westlichen“ Sinne erst im Züge der petrinischen Reformen nach Russland „importiert“ wurde und demzufolge jene Selbstverständlichkeit entbehrt, die sie im Westen genießt.

Innerhalb des traditionell dominierenden utilitaristischen Kulturparadigmas lassen sich wiederum Subparadigmen bzw. Modelle unterscheiden, und zwar je nachdem zu welchem Zweck und von wem die Kultur instrumentalisiert wird. Wenn es der „Staat“ ist, dann haben wir es mit der „imperialen“, von der „nationalen“ Ideologie mehr oder weniger geprägten, Kultur zu tun; wenn es das („einfache“) „Volk“ sein soll, dann ist es das Kulturmodell, das für die traditionelle russische „Intelligencija“ typisch war. Leicht zu sehen, dass die offizielle Kultur der Sowjetzeit eine Verschmelzung beider Kulturmodelle darstellt, indem die traditionellen, ursprünglich antistaatlichen, Einstellungen und Präferenzen der „Intelligencija“ in den Dienst des neuen „Reiches“ gestellt und dadurch ad absurdum geführt wurden. Dieser „Synthese“ ging aber das revolutionäre bzw. avantgardistische Modell voran das sich, bei allen Unterschieden, offensichtlich in dem sogenannten „Sozart“ bzw. in dem heutzutage in Russland so einflussreichen „Postmodernismus“ fortsetzt, der zwar nicht als direkt utilitaristisch zu bezeichnen ist (im Unterschied zur „klassischen Avantgarde“), der aber eine autonome Kultur nicht weniger entschieden leugnet und bekämpft.

So hätten wir in Russland mehrere deutlich ausgeprägte und miteinander konkurrierende Kulturmodelle, wobei die große Trennlinie zwischen den (drei) „utilitaristischen“, bzw. „antiautonomen“ Kulturmodellen und dem „autonomen“ Kulturmodell zu liegen scheint; diesem letzteren Modell gilt auch unser Hauptinteresse.

Die im Rahmen des Projekts durchgeführte Tagung „Kulturmodelle und Kulturkonstanten in der russischen Geschichte und Gegenwart“ machte auch andere, mit der ausgewählten Fragestellung eng verbundene Aspekte dieser Problematik sichtbar. Eine Bestandaufnahme des gegenwärtigen Kultur(Selbst)-verständnisses wurde in einer Reihe von Interviews mit führenden Vertretern der heutigen russischen Kulturszene unternommen, die in russischer Sprache (mit Vor- und Nachwort auf Deutsch im Sammelband „Russische Kultur im Umbruch. 30 aktuelle Positionen (Böhlau Verlag, Köln 2004) veröffentlicht worden sind.

Totalitäre Herausforderungen  des 20. Jahrhunderts in Russland und im Westen aus der Sicht der russischen Exildenker. Eine Aufsatzsammlung  (Autor: Leonid Luks)

 

Die russischen Emigranten, die nach dem Sieg der bolschewistischen Revolution ihr Land verließen, wurden zu Zeugen und Opfern des ersten geschichtlichen Versuchs, eine totalitäre Utopie in die Wirklichkeit  umzusetzen. Diese Entwicklung war bereits einige Jahre zuvor von einer Reihe russischer Denker vorhergesagt worden, die eindringlich vor den utopistischen Bestrebungen warnten. Bei diesen Denkern handelte es sich um die Herausgeber des 1909 erschienenen Sammelbandes Vechi.  Die Vechi-Autoren setzten sich schonungslos mit der revolutionären Ungeduld des radikalsten Teils der russischen Bildungsschicht – der Intelligencija – auseinander und warnten vor deren Illusion, man könne über Nacht ein soziales Paradies auf Erden aufbauen, und zwar durch die mechanische Beseitigung des „Bösen“, als dessen Verkörperung der Intelligencija das Zarenregime galt. Nach dem Sieg der Bolschewiki im russischen Bürgerkrieg befanden sich beinahe alle Vechi-Autoren im Exil. Sie begriffen, dass die Ereignisse von 1917 lediglich den ersten Akt eines allgemeineuropäischen Zivilisationsbruchs darstellten, und versuchten, die Öffentlichkeit in ihren jeweiligen Gastländern vor der sich anbahnenden Katastrophe zu warnen. Sie erzielten dabei allerdings wenig Resonanz. Anders als oft vermutet, hatte dies wenig mit den sprachlichen Barrieren zu tun. Zahlreiche Schriften der russischen Exildenker wurden in westliche Sprachen übersetzt, abgesehen davon beherrschten diese Autoren in der Regel vorzüglich Fremdsprachen und verfassten ihre Abhandlungen nicht selten in den Sprachen ihrer jeweiligen Gastländer. Die schwache Reaktion der westlichen Öffentlichkeit auf die Warnungen der Emigranten  lässt sich auch nicht durch das mangelnde Interesse  der deutschen, französischen oder britischen Intellektuellen für Russland erklären. Im Gegenteil,  Russland übte damals auf den Westen eine große Faszination aus. 1921 beklagte sich Hugo von Hoffmannsthal sogar, dass Dostoevskij nun drohe, Goethe von seinem Sockel zu stürzen. Warum profitierten die russischen Emigranten so wenig von diesem Russlandfieber, das damals den Westen erfasste?

Dies ungeachtet der Tatsache, dass der freie intellektuelle Diskurs, den die bolschewistische Diktatur im Lande selbst abwürgte, sich beinahe gänzlich ins „Russland jenseits der Grenzen“ (Hans v. Rimscha) verlagerte.   Nur im Exil konnte sich die russische Kultur, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine beispiellose Blüte (die philosophisch-religiöse Renaissance) erlebt hatte,  weiterhin in vollem Umfang entfalten.  Auch diese Tatsache wurde von der damaligen westlichen Öffentlichkeit kaum gewürdigt. Sogar Hans v. Rimscha , aus dessen Feder eine der differenziertesten Analysen der Ideengeschichte der russischen Emigration stammt, schrieb 1927 von der geistigen Sterilität des Exils. Es sei den Emigranten nicht gelungen, auf dem Gebiet der Philosophie, der Geschichtswissenschaft oder anderer Geisteswissenschaften etwas Erwähnenswertes zu schaffen. Dem Historiker, der diese Worte 1927 schrieb, fehlte die zeitliche Distanz, um zu erkennen, wie unbegründet sein Vorwurf war. Dieser mildernde Umstand  gilt jedoch nicht für gegenwärtige Autoren, die zu ähnlich pauschalen Urteilen neigen. Diese Unterschätzung der schöpferischen  Leistung der russischen Emigranten, die sowohl in der westlichen Öffentlichkeit als auch in der Forschung verbreitet ist, hat zweifellos damit zu tun, dass das „Russland jenseits der Grenzen“ (also das Russland im Exil)die deutsche, französische oder britische Öffentlichkeit weit weniger interessierte als der sowjetische Staat.  Wie gebannt schauten viele Europäer auf das von den Bolschewiki durchgeführte soziale Experiment, ungeachtet der Tatsache, dass Millionen von Russen für dieses  Experiment mit ihrem Leben bezahlen mussten. 

Im Rahmen des geplanten Projekts sollen vor allem  die Totalitarismusanalysen der bereits erwähnten Vechi-Autoren wie auch der Herausgeber der 1931 gegründeten Zeitschrift Novyj Grad,  die die Tradition der Vechi in vielerlei Hinsicht fortsetzte, untersucht werden.  Diese Analysen, gehören zu den interessantesten Versuchen, die Genese und den Charakter der totalitären Herausforderungen des 20. Jahrhunderts zu verstehen. Sie sind vom westlichen Totalitarismus-Diskurs jedoch kaum rezipiert worden. Besonders deutlich spiegelt sich die Unterschätzung der analytischen Leistung der russischen Exildenker   im Sammelband von Michael Geyer und Sheila Fitzpatrick  (Beyond Totalitarianism. Stalinizm and Nazizm compared, Cambridge University Press 2009) wider, der den Anspruch erhebt, eine Art Bilanz der bisherigen Totalitarismusforschung zu ziehen. In der 90-seitigen Literaturliste des Bandes sind nur einige Schriften enthalten, die aus der Feder der Vertreter der „ersten“ russischen Emigration stammen. Zu diesen wenigen Ausnahmen gehören die Abhandlungen des Ideologen der „Smena-Vech“-Bewegung, Nikolaj Ustrjalov, der die russischen Emigranten dazu aufrief, vor den bolschewistischen Siegern zu kapitulieren.

Wenn man bedenkt, dass der Beitrag der führenden russischen Exildenker zur Analyse der europäischen Krise des 20. Jahrhunderts und des Phänomens „Totalitarismus“ sich mit demjenigen solcher deutschen Emigranten wie Hannah Arendt, Ernst Fraenkel, Theodor Adorno, Helmuth Plessner oder Walter Benjamin durchaus messen lässt, ist die fehlende westliche Resonanz auf ihr Werk umso unverständlicher.

Die Zwischenergebnisse wurden u.a. in folgender Aufsatzsammlung vorgelegt: Leonid Luks: Totalitäre Versuchungen. Russische Exildenker über die Ursachen der russischen Revolution und über den Charakter der europäischen Krise des 20. Jahrhunderts. LIT Verlag, Berlin 2017.

csm_FrankBand3_01_cb54994d49.jpg
RTEmagicC_753ded7237.jpg.jpg
bottom of page